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Streitigkeiten im französischen Erbrecht – materiell-rechtliche und prozessuale Gesamtdarstellung

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1. Einführung – warum erbrechtliche Konflikte in Frankreich häufig eskalieren ?


Frankreich zählt zu den wenigen EU-Mitgliedstaaten, in denen das Erbrecht einer doppelten – zivilrechtlichen und steuerrechtlichen – Strenge unterliegt. Einerseits schützt das materielle Recht mit der réserve héréditaire einen unantastbaren Anteil zugunsten der Kinder oder – ersatzweise – der Eltern; andererseits schreibt das Verfahrensrecht zwingend vor, dass jeder Nachlass mit Immobilien oder Vermögen über 5 000 € unter notarieller Aufsicht abgewickelt wird. Diese Kombination provoziert Auseinandersetzungen: Erblasser versuchen, durch Schenkungen oder Patriomonial­gestaltungen ihre Testierfreiheit auszudehnen;


Reservatserben fürchten Entzug; entferntere Angehörige fühlen sich benachteiligt, weil die Reserve ihr Erbteil auf ein Minimum reduziert.

Zu den klassischen Konfliktherden zählen:

  • Unteilbare Erbengemeinschaften (indivision successorale), deren Vermögen brachliegt, weil einzelne Miterben nicht verkaufen wollen.

  • Zweifelhafte Testamente – häufig holographisch, ohne notarielle Beratung, mit Form- und Auslegungsmängeln.

  • Streit um Bewertungsgrundlagen bei Immobilien, Familiengesellschaften oder Kunstgegenständen.

  • Missbrauch des Nießbrauchs (usufruit) durch überlebende Ehepartner, der die Nutznießung des Eigentümers entwertet.


Der folgende Leitfaden stellt die gesamte Streitarchitektur dar: von der ersten notariellen Bestandsaufnahme über gerichtliche Teilungsverfahren, Spezialklagen, Verjährungs‐ und Fristfragen bis hin zu Gutachten und Rechtsmittelmöglichkeiten.



2. Ausgangssituation: Indivision und gesetzliche Pflichten des Notars


2.1 Die Erbengemeinschaft (indivision)


Mit dem Tod des Erblassers entsteht automatisch eine Gesamthand, in der alle Erben anteiliges Miteigentum an jedem einzelnen Nachlassgegenstand erwerben (Art. 815 C. civ.).


Die Gemeinschaft kann im Prinzip ewig andauern, doch das Gesetz anerkennt ein unverbrüchliches Recht jedes Miterben, „jederzeit die Aufhebung der Indivision zu verlangen“ (Art. 815 C. civ.). Zugleich gilt aber:

  • Substanzmaßnahmen (Verkauf von Immobilien, Aufnahme eines Darlehens) bedürfen der Einstimmigkeit.

  • Erhaltungsmaßnahmen können Mehrheit 2/3 der Anteile beschließen (Art. 815-3).

  • Verwaltungsmaßnahmen – reine Nutzung des Nachlassvermögens – genügen 2/3.


Blockiert ein Miterbe, bleibt oft nur der Gang zum Notar oder zum Gericht.

2.2 Obligatorische notarielle Abwicklung


Sobald Immobilien beteiligt sind oder der steuerpflichtige Nachlass 5 000 € übersteigt, muss ein Notar eingeschaltet werden (Art. 1004 C. civ.; Art. 641 Code général des impôts).


Der Notar

  1. ermittelt den Erbenkreis,

  2. verfasst das Erbscheinprotokoll (acte de notoriété),

  3. fertigt binnen sechs Monaten die Steuererklärung (déclaration de succession) und

  4. erstellt – wenn die Miterben es verlangen – einen Teilungsentwurf (projet d’état liquidatif et partage).


Verweigert ein Miterbe Unterlagen, kann der Notar beim Tribunal judiciaire eine injunction de communiquer beantragen (Art. 136 Code de procédure civile – CPC).



3. Streitigkeit Nr. 1: Aufhebung der Indivision (Teilungsverfahren)


3.1 Außergerichtliche Teilung


Sind alle Erben einig, unterzeichnen sie beim Notar einen Teilungsvertrag (acte de partage amiable). Immobilienübergänge erfordern notariellen Vollzug, verursachen aber lediglich fixe Registerkosten und eine Teilungsgebühr (0,2 % des Verkehrswerts).


3.2 Gerichtliche Teilung


Bleibt Einigung aus, läuten Art. 840 ff. C. civ. die Teilungsklage (action en partage judiciaire) ein. Sie wird von jedem Miterben vor dem Tribunal judiciaire am Lageort der Immobilie oder am letzten Wohnsitz des Erblassers erhoben (Art. 45 CPC).

Neuer Ablauf seit Dekret 2023-1185:

  1. Saisine durch Anwalt mit Klageschrift; Forderung: Bestellung eines notaire-partageur.

  2. Eröffnungsurteil – das Gericht benennt einen neutralen Verteilungsnotar. Gleichzeitig kann es einen gerichtlichen Gutachter einsetzen (expert-immobilier).

  3. Inventar und Bewertung: Der Notar erstellt unter Mitwirkung des Sachverständigen ein état liquidatif mit Aktiv- und Passivposten, Quoten, Ausgleichszahlungen (soultes).

  4. Einwände gegen das Gutachten sind binnen 30 Tagen schriftlich bei Gericht einzureichen (Art. 173 CPC).

  5. Schlusskolloquium – akzeptieren alle Miterben den Entwurf, homologiert das Gericht; andernfalls entscheidet es selbst oder ordnet eine Teilungsversteigerung an (Art. 888 C. civ.).


3.3 Teilungsversteigerung


Kann das Nachlassobjekt nicht wertschonend geteilt werden (typisch: Pariser Wohnung), ordnet das Tribunal eine Versteigerung nach Décret 2006-936 an. Der Erlös wird anschließend verteilt. Jeder Miterbe darf mitbieten; ein Surchetempfang ist binnen fünf Tagen möglich.



4. Streitigkeit Nr. 2: Anfechtung eines Testaments


4.1 Formnichtigkeiten


Ein holographisches Testament ist nichtig, wenn eine der drei Voraussetzungen fehlt: Handschrift, Datierung, Unterschrift. Die Klage auf Nichtigkeit (action en nullité) verjährt binnen fünf Jahren ab Bekanntwerden des Mangels, spätestens aber 20 Jahre ab Erbfall (Art. 2224 C. civ.).


4.2 Unzulässige inhaltliche Klauseln

  • Verstoß gegen die Reserve: Übersteigt die Verfügung die quotité disponible, können Reservatserben die Réduktionsklage (action en réduction) beim Tribunal judiciaire erheben.

  • Bedingungen, die die öffentliche Ordnung verletzen (Diskriminierung, Unmoral) sind nichtig (Art. 900 C. civ.).


4.3 Testierunfähigkeit und Zwang


Art. 901 C. civ. verlangt consentement libre et éclairé. Bei Demenz, geistiger Behinderung oder Druck kann eine rescission pour insanité d’esprit binnen fünf Jahren geltend gemacht werden. Beweislast: Anfechtender Erbe. In der Praxis werden psychiatrische Gutachten und Zeugenvernehmungen kombiniert.



5. Streitigkeit Nr. 3: Wertfestsetzung und Ausgleich (rapport / réduction)


5.1 Bewertung


Um Alt­schenkungen anzurechnen, wertet der Notar die Gegenstände auf den Tag der Teilung (Art. 860 C. civ.). Einmalige Schenkung einer Pariser Wohnung 2010 für 200 000 € – Marktwert 2025: 1 Mio €. Die Kinder A (Beschenkter) und B müssen ausgleichen. A erhält zwar die Wohnung, schuldet B 400 000 €.


5.2 Gutachterliche Hilfe


Bei Streit bestellt das Gericht einen gerichtlichen Gutachter (expert judiciaire) aus der Fachliste. Fragestellungen: Marktwert, Bauzustand, Nutzungswerte, Mietwert bei Nießbrauch. Parteien dürfen contre-expertises beantragen.



6. Streitigkeit Nr. 4: Anfechtung des Teilungsvertrags (Läsion & Irrtum)


Ein notariel­ler Teilungsvertrag kann nachträglich angefochten werden, wenn er einen Erben um mindestens ¼ seines Erbteils benachteiligt (lésion – Art. 889 C. civ.). Frist: 2 Jahre ab Teilung.


Alternativ: Willensmängel (Irrtum, Druck, Täuschung) nach Art. 1131 C. civ.; Verjährung 5 Jahre ab Entdeckung.



7. Spezialklagen: Rechnungslegung (compte) und Nachlassverwaltung


7.1 Rechnungslegung gegen Miterben oder Notar


Hat ein Miterbe den Nachlass allein verwaltet, können andere eine action en reddition de comptes erheben. Der Beklagte muss alle Einnahmen/Ausgaben belegen; bei Vernichtung von Belegen kann das Gericht Beweislast umkehren (Cass. civ. 1ᵉʳ, 3 Feb 2024).


7.2 Haftung des Notars


Verletzt der Notar seine Neutralität oder verabsäumt Steuerpflichten, haftet er nach Art. 1240 C. civ.; Klagen laufen vor dem Tribunal judiciaire Spezialkammer für notarielle Haftung. Berufs­haft­pflicht deckt 150 000 € pro Fall.



8. Verjährungsfristen zusammengefasst


Klageart

Frist

Gesetzesnorm

Ablauftag

Teilungsklage

unbegrenzt (Recht, Indivision zu verlassen)

Art. 815

Réduktionsklage

5 J. ab Erbfall oder Kenntniserlangung / 2 J. nach Teilung / 10 J. absolut

Art. 921

variabel

Testamentsnichtigkeit

5 J. ab Entdeckung, max. 20 J.

Art. 2224

Todeszeitpunkt +20 J.

Läsionsanfechtung Teilung

2 J.

Art. 889

Unterzeichnung +2 J.

Rechnungslegung gegen Verwalter

5 J.

Art. 815-10

Entdeckung der Pflichtverletzung


9. Zuständige Gerichte und Rechtsmittel


Instanz

Zuständigkeit

Besonderheiten

Tribunal judiciaire

Klagen bis 500 000 €, alle Teilungssachen, Testamentsanfechtung, Réduction

Anwaltszwang, Schlich­tungspflicht seit 2022 (Médiation obligatoire)

Cour d’appel

Berufung gegen Urteile des TJ

Frist 1 Monat ab Zustellung

Cour de cassation

reine Rechtsprüfung

kein Suspensiveffekt, Anwalt à la Cour erforderlich


10. Prozessuale Strategien und Praxistipps


  1. Beweissicherung früh: Fotos, Kontoauszüge, Zeugenaussagen, bevor Dokumente verschwinden.

  2. Vorprozessuale Fristsetzung an säumige Miterben, sonst Gefahr von Kostenlast.

  3. Antrag auf Güterinventar (inventaire) binnen 3 Monaten, um Haftung nach Annahme zu begrenzen.

  4. Zwischenzeitliche Nutzung: Antrag auf richterliche Verwaltung (administration provisoire) bei Blockade.

  5. Simultanverfahren vermeiden: Bei parallelen Verfahren (Réduction + Teilung) fordern Richter häufig Zusammenlegung aus Gründen der Prozessökonomie.



11. Internationale Dimension


Die EU-VO 650/2012 vereinfacht die Nachlassabwicklung, ändert aber nicht die Zuständigkeit der französischen Gerichte für Immobilien in Frankreich (lex rei sitae) und zwingende Rechte (réserve). Ausländische Erben müssen also französische Fristen wahren. Anerkannte ausländische Entscheidungen erfordern exequatur nur bei dinglichen Rechten; bei persönlichen Ansprüchen genügt EU-Nachlasszeugnis.



Schluss


Der französische Nachlassstreit ist ein vielstufiges Verfahren zwischen notarieller Kooperation und gerichtlicher Konfrontation. Frühzeitige Strategie, fundierte Bewertungsgutachten und die Kenntnis enger Verjährungsfristen sind entscheidend, um Vermögenswerte zu sichern und langjährige Blockaden zu verhindern.

Bei individuellen Fragen oder zur Prozessvertretung stehen wir deutschsprachigen Mandanten jederzeit zur Verfügung: https://www.rous-avocat.fr/contact.

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