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Die französischen Verfahren der Unternehmensinsolvenz (procédures collectives) – Systematik, Ablauf und aktuelle Reformen


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Das französische Recht der Unternehmenskrise hat in den letzten zwei Jahrzehnten einen bemerkenswerten Wandel erlebt. Schon seit den großen Reformen von 1985, 2005 und 2014 zielte das livre VI des Code de commerce darauf, Unternehmen frühzeitig zu stabilisieren, Arbeitsplätze zu sichern und den sozialen Schaden einer Insolvenz zu begrenzen. Mit der Ordonnance n° 2021-1193 vom 15. September 2021, die die EU-Restrukturierungsrichtlinie 2019/1023 in französisches Recht umsetzte, wurde dieser präventive Ansatz weiter ausgebaut, ohne jedoch die Grundstruktur der traditionellen Verfahren – sauvegarde, redressement judiciaire und liquidation judiciaire – in Frage zu stellen.


Dieser Beitrag führt deutschsprachige Leser Schritt für Schritt durch die aktuellen französischen Insolvenzverfahren, erläutert ihre Voraussetzungen, den typischen Verfahrensablauf, die Rolle der Organe, die Rechtsfolgen für Gläubiger und Vertragspartner sowie die wichtigsten Reformen bis 2025.


1 Grundprinzipien des französischen Insolvenzrechts


1.1 Prävention statt reine Gläubigerbefriedigung


Frankreich verfolgt ein dreistufiges Modell:

  • Vertrauliche Krisenprävention (mandat ad hoc und conciliation) zur Vermeidung jeglichen Insolvenzantrags.

  • Gerichtliche Restrukturierung ohne Insolvenzstatus (sauvegarde), sobald die Erfüllung fälliger Verbindlichkeiten absehbar gefährdet ist.

  • Klassische Insolvenzverfahren (redressement oder liquidation judiciaire) bei bereits eingetretener Zahlungsunfähigkeit (cessation des paiements).


1.2 Begriffsbestimmung „Zahlungsunfähigkeit“


Nach Art. L631-1 Code de commerce liegt Zahlungsunfähigkeit vor, wenn das Unternehmen seine fälligen Verpflichtungen mit den verfügbaren Zahlungsmitteln nicht decken kann. Eine reine Illiquidität genügt; Überschuldung ist kein Tatbestandsmerkmal.


1.3 Gerichtszuständigkeit und Rolle des Ministeriums


Ein Handelsgericht (tribunal de commerce) ist für gewerbliche Unternehmen und Personengesellschaften zuständig; das Zivilgericht (tribunal judiciaire) entscheidet bei freien Berufen und Vereinen. Das Justizministerium übt nur Aufsicht aus; die Einleitung ist grundsätzlich Sache des Schuldners oder der Gläubiger.


2 Vertrauliche Vorphase: Mandat ad hoc und Conciliation


2.1 Mandat ad hoc


Der Schuldner beantragt beim Präsidenten des Handelsgerichts die Bestellung eines mandataire ad hoc. Dieser neutral-professionelle Vermittler (häufig ein gerichtlich bestellter Verwalter) erhält ein maßgeschneidertes Mandat: von der moderierten Bankrunde bis zur Vorbereitung komplexer Debt-Equity-Swaps. Ein öffentliches Register- oder

Ankündigungserfordernis existiert nicht; Gläubiger erfahren von dem Verfahren nur, wenn sie an den Gesprächen teilnehmen.

  • Voraussetzung: keine Zahlungsunfähigkeit.

  • Dauer: beliebig, typischerweise drei bis sechs Monate, verlängerbar auf Antrag.

  • Rechtsfolgen: keinerlei Vollstreckungsstopp, keine zwingende Gläubigerbeteiligung, aber hoher informeller Druck zur Einigung.


2.2 Conciliation


Die gerichtliche Conciliation steht Unternehmen offen, die sich entweder in „drohender Krise“ (simple difficulté) oder höchstens 45 Tage in Zahlungsunfähigkeit befinden. Auch hier wird ein neutraler conciliateur eingesetzt.


Gelingt eine Einigung, kann sie bloß „festgestellt“ (constat) oder – mit weitergehenden Wirkungen – „homologiert“ werden:

  • Die homologierte Vereinbarung sperrt individuelle Vollstreckungsmaßnahmen, rangiert neue Finanzierungen günstig und ermöglicht dem Richter, Gläubiger mit unverhältnismäßiger Ablehnungshaltung zu überstimmen.

  • Misslingt die Einigung, kann der Schuldner innerhalb von acht Tagen in ein förmliches Verfahren (sauvegarde oder redressement judiciaire) wechseln, ohne dass Gläubiger Zwischenvollstreckungen vornehmen dürfen.


3 Die Sauvegarde – gerichtliche Sanierung vor der Insolvenz


3.1 Einleitungsvoraussetzungen


Art. L620-1 Code de commerce erlaubt dem Schuldner, vor Eintritt der Zahlungsunfähigkeit Schutz zu beantragen, wenn er absehen kann, dass er seine Verbindlichkeiten nicht mehr rechtzeitig bedienen können wird. Das Gericht eröffnet die sauvegarde durch Beschluss (jugement d’ouverture) und setzt eine Beobachtungsperiode (période d’observation) von sechs Monaten fest, einmalig um denselben Zeitraum verlängerbar.


3.2 Verfahrensorgane


  • Richter-Kommissar (juge-commissaire) überwacht das Verfahren.

  • Gerichtlicher Sachwalter (administrateur judiciaire) übernimmt – je nach Größe des Unternehmens – reine Überwachung oder teilweisen Betrieb.

  • Gläubigervertreter (mandataire judiciaire) sammelt Forderungsanmeldungen, vertritt die Gesamtheit der Gläubiger.


3.3 Rechtsfolgen


Alle Forderungen mit Entstehungsgrund vor Verfahrenseröffnung werden eingefroren. Liefer- und Mietverträge laufen weiter, sofern der Schuldner die laufenden Gegenleistungen erfüllt. Eine Kündigung allein wegen Zahlungsverzugs aus der Zeit vor Eröffnung ist unzulässig (Art. L622-13).


3.4 Der plan de sauvegarde


Spätestens am Ende der Beobachtungsperiode legt das Unternehmen einen Plan vor, der Laufzeiten (bis zehn Jahre; bei Landwirten bis 15 Jahre), Stundungen und Quoten vorsieht. Banken und Großgläubiger stimmen in Komitees; Klein- und Arbeitnehmerforderungen unterliegen gerichtlicher Bestätigung. Nach Bestätigung bindet der Plan sämtliche Gläubiger.


3.5 Spezielle Varianten


Seit der Reform 2021 existieren zwei beschleunigte Unterarten, um Kapitalmarkt- und Großgläubiger effizient einzubinden:

  • Sauvegarde accélérée – binnen zwei Monaten, für Unternehmen > € 250 Mio. Umsatz oder > 150 Mio. Bilanzsumme.

  • Sauvegarde financière accélérée – ausschließlich für Finanzschulden, innerhalb eines Monats.


Beide setzen eine vorab ausgehandelte Conciliation voraus. Légifrance



4 Das Redressement judiciaire – Sanierung in der Insolvenz



4.1 Eröffnungsgründe und Fristen


Ist das Unternehmen bereits zahlungsunfähig, muss es binnen 45 Tagen nach Eintritt einen Eröffnungsantrag stellen, sofern keine laufende Conciliation existiert (Art. L631-4). Gläubiger und Staatsanwalt sind ebenfalls antragsberechtigt; häufig leitet das Finanzamt ein Verfahren ein.



4.2 Ablauf


Wie in der sauvegarde folgt eine Beobachtungsperiode; allerdings wird das Ziel schärfer auf den Erhalt der Aktivität und die Befriedigung der Gläubiger ausgerichtet. Während dieser Phase kann der Richter Teilbetriebsverkäufe genehmigen, um die Kernaktivität zu retten.



4.3 Ausgangsoptionen


  1. Sanierungsplan (plan de redressement): ähnlich dem plan de sauvegarde, jedoch mit strikteren Vorgaben (jährliches Reporting, Aufsicht).

  2. Übertragungsplan (plan de cession): Verkauf aller oder wesentlicher Vermögensgegenstände an einen Erwerber, vergleichbar mit dem deutschen Gesamthandserwerb nach § 169 InsO.

  3. Umwandlung in Liquidation: wenn keinerlei wirtschaftliche Fortführungsaussicht besteht.



4.4 Besondere Haftungsrisiken für Geschäftsführer


Bei verspätetem Insolvenzantrag droht dem Geschäftsleiter in Frankreich – anders als im deutschen Recht – eine Haftung für Unterbilanz sowie Délits wie banqueroute simple oder frauduleuse (Art. L654-3 ff.).



5 Die Liquidation judiciaire – Beendigung des Unternehmens


Wird die Sanierung ausgeschlossen, eröffnet das Gericht die Liquidation. Ein Liquidator (liquidateur judiciaire) realisiert die Vermögenswerte und verteilt den Erlös nach Rangfolge.


Ab 2025 gilt eine beschleunigte Kleinverfahren-Variante („petite liquidation“) bei Umsätzen unter € 350 000 und weniger als fünf Beschäftigten: Der Liquidator kann binnen zwölf Monaten schließen und wird von vereinfachten Verwertungsvorschriften entlastet. Conseil d'État



6 Gemeinsame Wirkungen aller förmlichen Verfahren


6.1 Vollstreckungsstopp

Mit Eröffnung tritt ein umfassendes Vollstreckungsverbot (arrêt des poursuites individuelles) ein; laufende Zwangsvollstreckungen werden ausgesetzt, neu-begonnene Handlungen sind nichtig.


6.2 Vertragsfortführung

Liefer- und Dienstleistungsverträge können nur aus wichtigem Grund gekündigt werden; bloße Zahlungsrückstände reichen nicht.


6.3 Neue Geldgeberprivilegien

„DIP-Finanzierungen“ nach Art. L626-6 genießen im Rang Vorrang vor (fast) allen Altverbindlichkeiten, sofern das Gericht sie genehmigt – ein Anreiz ähnlich den § 270b-Finanzierungen im deutschen StaRUG-Verfahren.


6.4 Rangfolge

Besicherte Forderungen (sûretés réelles) bleiben privilegiert, müssen aber das Stillhaltegebot respektieren. Lohnforderungen erhalten ein Superprivileg über den AGS-Fonds (Association pour la gestion du régime de garantie des créances salariales).



7 Vergleich mit Deutschland in Kürze


Aspekt

Frankreich

Deutschland

Prävention

Mandat ad hoc, Conciliation, Sauvegarde noch vor Insolvenz

StaRUG-Verfahren (Restrukturierungsplan)

Insolvenzeröffnung

Zahlungsunfähigkeit = Illiquidität

Zahlungsunfähigkeit = Illiquidität; Überschuldung eigenständiger Grund

Selbstverwaltung

möglich, aber seltener; Gericht kann Vollmachten einschränken

weit verbreitet (§ 270 InsO, Eigenverwaltung)

Planabstimmung

Gläubigerkomitees nach Gruppen, gerichtliche Bestätigung

Gläubigergruppen, Planabstimmung, Gericht bestätigt (§ 254 InsO)

Arbeitnehmer

starker Kündigungsschutz, Übernahme durch Erwerber

Kündigungen unter erleichterten Bedingungen (§ 113 InsO)

Österreich und die Schweiz ordnen sich jeweils zwischen diesen beiden Polen ein: Österreich lehnt sich an das deutsche Modell an, die Schweiz ist näher am französischen Gläubigerschutz, kennt aber kein präventives Sauvegarde-Pendant.



8 Aktuelle Reformschwerpunkte 2023 – 2025


  • Nachschärfung der EU-Richtlinie: Frankreich hat 2023 die Möglichkeit verlängert, Klassenabstimmungen digital durchzuführen und Stimmrechte von Kleingläubigern bis zu € 1 000 zu bündeln.

  • Kleinliquidation: Vereinfachung und Digitalisierung (Dekret Mai 2025) mit verpflichtender Online-Forderungsanmeldung und elektronischer Verwertungsplattform.

  • Grüner Sanierungsplan: Seit Januar 2025 muss jeder plan de sauvegarde die umweltrechtlichen Verpflichtungen des Unternehmens evaluieren und Finanzierungsvorschläge für ökologische Compliance vorlegen.



Schlussbemerkung


Frankreich stellt dem Unternehmer ein fein abgestuftes Instrumentarium bereit, das vom diskreten Mediationsverfahren bis zur vollwertigen Insolvenz reicht. Die Kunst besteht darin, den richtigen Zeitpunkt zu erwischen: Zu frühes Abwarten riskiert persönliche Haftung, zu übereilter Insolvenzantrag verhindert oft eine einvernehmliche Lösung. Wer frühzeitig auf Prävention setzt, profitiert von einem rechtlichen Schutzschirm, der in seiner Weite auch im europäischen Vergleich Maßstäbe setzt.


Bei weiteren Fragen zur Wahl des passenden Verfahrens, zu Haftungsrisiken oder zu grenzüberschreitenden Sanierungen zögern Sie nicht, uns unverbindlich zu kontaktieren – wir stehen Ihnen gerne zur Verfügung: https://www.rous-avocat.fr/contact.

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